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"Gemeinwohl ist eine Utopie – das ist gut so!"

Portrait Thomas Reichmann
Dienstag, 11. August 2020

"Gemeinwohl ist eine Utopie – das ist gut so!"

Thomas Reichmann ist Organisationsberater. Er war im Finanzdienstleistungssektor als Manager und Consultant tätig und hat sich zunehmend – „aus Erfahrung“, wie er sagt – den Themen Nachhaltigkeit und Gemeinwohl zugewandt. In der Genossenschaft arbeitet er ehrenamtlich in mehreren Arbeitskreisen mit, zudem hat er am ersten Durchgang unseres Zertifikatslehrgangs Geld und Gemeinwohl – die Finanzwelt verstehen und gestalten teilgenommen. Dazu haben wir uns mit ihm unterhalten:

 

Thomas, was bedeutet Geld für dich?

 

Ich habe früher wenig darüber nachgedacht. Als ich „zu wenig“ hatte, schien es Druck zu bedeuten, als ich „mehr als genug“ hatte, Freiheit. Heute sehe ich Irrtum und Wahrheit in beidem – wie in all den anderen Zuschreibungen, die ich dem Geld schon verpasst habe. Es hat immer die Bedeutung, die ich ihm gebe. Eigentlich ist diese Idee „Geld“ – die wir Menschen „aus dem Nichts“ erschaffen haben, und das immer wieder tun – ja im Grunde so gemeint. Wir können dem Geld die Bedeutung geben, die wir für richtig halten. Es steht stellvertretend für etwas, dem wir Wert beimessen. Reale Bedeutung haben die Werte, gegen die wir es eintauschen.

 

Damit diese Idee funktioniert (ich finde sie grundsätzlich sehr schlau!), ist es notwendig, dass wir uns als Gesellschaft auf funktionale und faire Spielregeln einigen: das Geld- und Finanzsystem. Ich verstehe heute unter Geld – abgesehen vom Tauschmittel, als das ich es verwenden kann – hauptsächlich eine öffentliche Infrastruktur zur individuellen Nutzung. Diese Infrastruktur besteht aus Gesetzen und Regulatorien, gemacht, um effizient Wirtschaft zu treiben – also um das Austauschen von „realen Werten“, Gütern und Leistungen zu erleichtern. So wär's gedacht, meine ich ... Allerdings scheint da einiges in die falsche Richtung gelaufen zu sein. Das Geld- und Finanzsystem leidet zunehmend unter Realitätsverlust, wird selbst-referenziell und vergisst, dass es eigentlich dafür da ist, einer Real-Wirtschaft zu dienen – die der Erfüllung realer menschlicher Bedürfnisse dient. 

 

Auf der persönlichen Ebene habe ich meinen Frieden mit dem Geld schon weitgehend gemacht, behaupte ich. Das hilft mir, mich ein wenig entspannter und sachlicher mit Systemfragen zu befassen. Ich denke, im Grunde ist diese persönliche Ebene der Schlüssel. Das eigene Verständnis von Geld, das Hinterfragen, was es für einen selbst bedeutet, die eigenen Projektionen darauf, die ganz individuellen Zuschreibungen erkennen, die oft überhaupt nichts mit Geld zu tun haben – sie annehmen, sie auflösen ... Das gibt Freiheit! :)

 

Was bedeutet Gemeinwohl für dich?

 

Balance, Zufriedenheit, ein Gefühl von Glück und innerer Ruhe. Es geht mir gut, wenn es den Menschen um mich herum gut geht. Ich sehe eine dynamische Balance – immer wieder nachjustieren ist wichtig. 

 

Grundsätzlich wird Gemeinwohl, so denke ich, durch die Erfüllung menschlicher Bedürfnisse erreicht. Die Bedürfnisse einzelner Menschen, ausgewogen mit denen anderer, also mit gemeinschaftlichen Interessen. Das macht die Sache zugleich einfach und doch komplex. Grundbedürfnisse sind ein guter Bezugspunkt. Sie sind begrenzt und stillbar, es gibt also einen Zustand, wo Menschen zufrieden sein können – wenn sie sich darauf einlassen. Und sie sind allen Menschen gemeinsam, weil sie im Menschsein an sich gründen – unabhängig von Kulturen und damit verbundenen Wertesystemen. Die machen es oft so schwer, das wahrhaft Gemeinsame im Blick zu behalten. Sich am Gemeinwohl zu orientieren könnte also das Verbindende sein, wenn wir uns wieder einmal in Kulturkämpfe, in Auseinandersetzungen über „unverhandelbare Grundwerte“ oder gar Glaubenskriege verlaufen haben.

 

Die Krux an den menschlichen Bedürfnissen ist, dass sie schon vom einzelnen Menschen zeitgleich widersprüchlich empfunden werden. Ziehe ich mir morgens die Laufschuhe an, oder bleib ich noch im Bett? Was esse ich jetzt? Gesund oder lecker? Jetzt noch? Kann ich dann morgens laufen gehen? Nur als Mini-Beispiel, das auch nur in einer Wohlstandsgesellschaft funktioniert. Es spielt sich auch auf einer ganz anderen Ebene ab. Beispielsweise, will ich gerade mehr Sicherheit oder mehr Freiheit? Da hängt auch eine ganze Reihe an schwierigen persönlichen Entscheidungen dran, und stellt sich bei unterschiedlichen Lebenssituationen jeweils gänzlich anders dar.

 

Und jetzt stellen wir uns vor, lauter so komplizierte Wesen „Mensch“ müssen sich darauf einigen, was gerade dem Wohlergehen jedes Einzelnen am meisten nützt und zugleich am wenigsten schadet. Da kann es schon hilfreich sein, sich Orientierungssysteme zu schaffen – vielleicht sogar an „Grundwerten“ orientiert? Vielleicht fällt uns aber auch noch etwas Besseres ein – mit weniger Risiko, dass Wertesysteme aufeinanderprallen.

Ich finde wichtig zu sehen, dass Gemeinwohl kein einmalig, vollständig beschreibbarer Zustand ist. Wir müssen uns darauf einlassen, es immer neu zu verhandeln. Mit „wir“ meine ich hier Beteiligte und Betroffene – was in einer ausgeprägt vernetzten Gesellschaft weit ausgelegt werden muss.

 

Einen mir wichtigen Punkt will ich noch unbedingt erwähnen. Ich erlebe oft, dass Gemeinwohl mit persönlichem Verzicht in Verbindung gebracht wird. Ich denke, es ist unverzichtbar, das persönliche Wohl im Auge zu behalten. Was ist denn das für ein Beitrag zum Gemeinwohl, wenn es mir nicht gut geht? Das geht sich unterm Strich nicht aus. Es ist ein konstruktiver Beitrag zum Gemeinwohl, sich selbst gut zu behandeln.

 

Im Grunde genommen halte ich Gemeinwohl für eine Utopie. Das ist bei mir positiv belegt: ein Ziel, das zwar so hoch gehängt ist, dass ich es wahrscheinlich nie ganz erreichen werde. Aber es ist so anziehend, dass ich mich gerne immer wieder darauf zubewege – immer wieder ein Stückchen näher.
Mich zieht's voll in Richtung Balance und Zufriedenheit – gerade dann, wenn sie mir wieder einmal abhandenkommen ;-)

 

Was waren für dich wichtige Erkenntnisse, die du aus dem Lehrgang mitnehmen konntest?

Vorrangig die Vielfalt und Komplexität des Themas „Geld“ als Chance zu begreifen. Viele Perspektiven wurden angeboten, auch scheinbar widersprüchliche. Und doch wurden die Zusammenhänge zunehmend klarer.

 

Für mich war die Erkenntnis wichtig: Ich kann eigentlich „irgendwo“ anfangen – da, wo ich die Sache gerade an besten verstehe, kann ich am besten ins eigene Tun kommen. Wenn ich dabei im Auge behalte, worum es schlussendlich im Großen und Ganzen geht – das Gemeinwohl.

Wie zentral der Hebel „Geld“ ist, um gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben (oder auch zu bremsen) war mir schon vorher bewusst. Wo konkrete Ansatzpunkte liegen – da habe ich wieder einiges gelernt. Ich nehme nur ein Beispiel von vielen heraus. Mir war nicht in vollem Umfang klar, welch dramatische Bedeutung es hat, dass große private IT-Konzerne ins „Geschäft“ der Zahlungsdienstleistungen einsteigen – z.T. mit dem Versuch, alternative Währungen zu etablieren.  Mit dem impliziten Anspruch von „Demokratisierung“. Es sind ganz wenige Konzerne, mit enormer Marktmacht, und es sind wahrlich nicht demokratisch organisierte oder legitimierte Institutionen. In Wahrheit zieht uns das die Demokratie unterm Hintern weg. Da verdrängt die Marktwirtschaftslogik massiv die Rechtsstaatlichkeit. Der Prozess ist erschreckend weit fortgeschritten und auf politischer Ebene (sowohl in Österreich als auch in der EU) wird wenig gegengesteuert – eigentlich im Gegenteil. Die Macht wird verschoben von „Menschen mit Stimme“ (Bürger*innen, Wähler*innen), zu „Menschen mit Geld“ (Kapital). Scheinbar wird sie verschoben zu „Konsument*innen“ – was de facto gar nicht der Fall ist. Nun sind wir als Menschen wesentlich mehr als Konsument*innen, und haben auch ganz andere Bedürfnisse. Um die zu schützen, brauchen wir den Rechtsstaat. Den dürfen wir nicht verkaufen. Diese „Demokratisierung“ sollten wir uns nicht andrehen lassen.

 

Auf ganz anderer Ebene habe ich auch Erkenntnisse gewonnen. Wieder einmal über mich selbst. In der sogenannten „Geldarbeit“, die das eigene Verhältnis zu Geld beleuchtet. Das hatte ich zwar schon gemacht, aber auch Wiederholung ist spannend und bringt Neues. Die konkreten persönlichen Erkenntnisse mag ich im Interview aber jetzt nicht ausbreiten ... ;-)

 

Was gestaltest du nun in diesem Bereich?

 

Zuallererst: Ich wiederhole diesen Lehrgang! :) Ich darf beim nächsten Durchgang der Lehrgangsleiterin Christina Buczko assistieren. Ich finde es spannend und erfüllend, Menschen das Thema „Geld und Gemeinwohl“ als Chancen-Feld leichter zugänglich zu machen. Und ich erwarte mir auch für mich selbst wieder neue Erkenntnisse, weil dieser Lehrgang viel Raum für Dialog bietet – ich bin neugierig, wohin die Fragen der Teilnehmer*innen diesmal führen.

Ansonsten betätige ich mich weiter in der Genossenschaft für Gemeinwohl ehrenamtlich, mit wechselnden Schwerpunktthemen. Das ist eine gute Plattform um zivilgesellschaftlich aktiv zu sein. Und der Hebel „Geld“ ist aus meiner Sicht ein sehr starker, um tatsächlich etwas zu bewegen.

 

Wem würdest du die Teilnahme am Lehrgang empfehlen, und warum?

Menschen mit dem Wunsch nach konstruktiver Veränderung. Wer auf der Suche ist, nach eigenen Möglichkeiten, sich selbst, und damit auch die Gesellschaft weiterzuentwickeln, findet hier ein spannendes Spektrum an konkreten Angeboten aufgezeigt. Und es wird unterstützt „das Eigene“ im großen Feld der Möglichkeiten zu finden. In einem Themengebiet, in dem viel Handlungsmacht liegt.

 

Ein „Goodie“ mag für einige auch sein, dass es sich um einen Zertifikatslehrgang handelt – d.h. er kann für berufliche Qualifizierungen bzw. akademische Ausbildungen angerechnet werden (mit 5 ECTS Punkten).

 

Danke für das Gespräch!